von Simone Boehringer, Dirk Lupberger und Thomas Siurkus
Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, wichtiger Handelspartner der EU und insbesondere Deutschlands, und gemessen an Patenten und Publikationen, die fünftwichtigste Wissenschaftsnation der Welt. Zudem, geografisch betrachtet ist Japan eine Kette gebirgiger Inseln, die das Gros der Bevölkerung in wenigen Metropolen (Megacities) beherbergt. Solche Besonderheiten gilt es zu berücksichtigen, betrachtet man dieses faszinierende Land näher.
Genau die Gelegenheit dafür nahmen 14 Teilnehmende des Tönissteiner Kreises e.V. (TK) sowie des Studierendenforums im Tönissteiner Kreis e.V. (SF) und 6 Stipendiaten und Stipendiatinnen des Studienwerks für Deutsch-Japanischen Kultusaustausch in NRW e.V. in Zusammenarbeit mit dem Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin (jdzb) in der ersten Oktoberhälfte im Rahmen eines Sur-Place-Dialoges Tokyo wahr und wurden Teil eines wahrhaft ganzheitlichen Erlebnisses.
Japan entdecken – das bedeutete im Rahmen dieses Programms, sich mit Experten und Expertinnen auszutauschen über die Politik, Ökonomie und gesellschaftlichen Besonderheiten des Landes, mit Studierenden in Kontakt zu kommen und Orte zu erkunden, die Aufschluss geben über die japanische Geschichte und Kultur. Im Gepäck hatten die Teilnehmenden zwei Leitfragen, die sich die Woche über wie ein roter Faden durch die Diskussionen zogen:
- Wie geht es dem innovationsgetriebenen Japan im Umbruch zu einer digitalen und nachhaltigen Gesellschaft und welche Themen treiben Politik und Wirtschaft um?
- Wie ist es um die deutsch-japanischen Beziehungen bestellt und welche Ziele werden aktuell verfolgt?
Einblick in die Besonderheiten der japanischen Wirtschaft sowie die deutsch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen gaben uns Prof. Dr. Franz Waldenberger bei einem Besuch des Deutschen Instituts für Japanstudien, der Delegierte der Deutschen Wirtschaft Marcus Schürmann bei einem Besuch der Auslandshandelskammer in Tokyo sowie Axel Karpenstein bei einem Besuch des Deutschen Hauses, welches unter anderem auch das Büro des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes sowie des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses Tokyo beherbergt.
Aus der Auseinandersetzung mit den Besonderheiten der japanischen Wirtschaft kam im Rahmen der Diskussion die Frage nach der Art der Konfliktbewältigung in Japan auf, über die wir mit den in Tokyo lebenden Tönissteinern Dr. Lars Markert aus juristischer Perspektive und mit Dr. Jochen Legewie aus Perspektive eines Kommunikationsberaters sprechen konnten.
Genauso facettenreich wie der Blick auf die Besonderheiten der japanischen Wirtschaft war auch die Auseinandersetzung mit den deutsch-japanischen Beziehungen. Das Programm des Sur-Place-Dialogs zeichnete sich durch die Vielzahl der Perspektiven aus, die eingenommen wurden: mit dem deutschen Botschafter Dr. Clemens von Goetze besprachen wir bi- und multilaterale Themen der Kooperation beider Länder aus deutscher Perspektive. EU-Botschafter Jean-Eric Paquet adressierte aktuelle Herausforderungen sowie die Besonderheiten des Verhältnisses zwischen der Union und Japan aus europäischer Perspektive. Zum Verständnis der japanischen Perspektive trug der ehemalige japanische Botschafter in Deutschland und jetzige Präsident des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin, Yagi Takeshi, im Rahmen einer Dinner-Speech bei.
Das Programm des Sur-Place-Dialogs war jedoch nicht nur geprägt vom Blick der Experten und Expertinnen auf Japan. Den Teilnehmenden war es auch wichtig, die Perspektive von jungen Studierenden auf das Land einzufangen. So hatten wir die Gelegenheit, mit Studierenden der Universität der Vereinten Nationen (UNU, gel. auch „Weltuniversität“ genannt) ins Gespräch zu kommen in dem Gebäude, in deren großen Sälen neben Vorlesungen von Studierenden auch UNO-Fachversammlungen stattfinden. Außerdem kam einem Teil der Gruppe die Gelegenheit zu Teil, sich mit Studierenden der Sophia Universität über gesellschaftliches Engagement am Campus auszutauschen.
Die Gruppe der Teilnehmenden des Sur-Place-Dialogs hat beim Besuch der Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen nicht nur viele inhaltliche Impulse aus den Gesprächen mitnehmen können, sondern gleichzeitig auch Orte erkunden können, die Einblicke geben in die Kultur und die Geschichte des Landes. Einige Orte stachen hierbei besonders heraus. So erhielt die Gruppe die Möglichkeit eines Besuches des japanischen Parlaments mit kundiger, anekdotenreicher Führung durch Timothy Langley, einem ehemaligen parlamentarischen Sekretär eines früheren japanischen Außenministers. Garniert wurde der Besuch durch ein Kennenlerngespräch mit dem LDP-Abgeordneten Minoru Kiuchi, der als Mitglied des außenpolitischen Ausschusses zentraler Ansprechpartner für die deutsch-japanischen Beziehungen des Unterhauses ist und die Gruppe in deutscher Sprache begrüßte.
Darüber hinaus wurde den Teilnehmenden die Möglichkeit zuteil, einer Führung durch das „Deutsche Haus“ beizuwohnen. Abgerundet wurde der Einblick in Orte der japanischen Kultur und Gesellschaft durch einen Besuch des Tokyo Rinkai Disaster Prevention Parks sowie die interaktive Ausstellung des Künstlerkollektivs „Teamlab“.
Die Begegnungen und Gespräche im Rahmen der Reise regten die Teilnehmenden dazu an, über die gewonnenen Erkenntnisse zu reflektieren und eigene Antworten auf die Frage zu ergründen, was Japan ausmacht. Hierzu sechs gesammelte Beobachtungen aus den Gesprächen und Erkundungen:
- Japan ist ein reiches Land, aber der Staat ist arm: Japan hat mit knapp € 10 Bio. und rund 260% des BIP die höchste, kaum extern finanzierte, Staatsschulden Quote der Welt, die (im Durchschnitt ähnlich wie Deutsche wohlhabenden) Japaner haben aber gleichzeitig (nach den Chinesen) das zweitgrößte Auslandsvermögen aller Staaten (insb. US t-bills investiert).
- Auch Japan erlebt gerade eine Zeitenwende: Die Politik hat Sorge ob einer möglichen sicherheitspolitischen Zuspitzung mit China, insb. wegen möglicher Begehrlichkeiten Pekings bzgl. der „abtrünnigen Provinz“ Taiwan. Diskussion um Art. 9 der Verfassung, den sog. ‚Friedensartikel‘. Mehr als 2% des BIP werden inzwischen für Rüstung ausgegeben.
- Die Relevanz deutsch-japanischer Wirtschaftsbeziehungen ist enorm: Deutschland exportierte 2022 Waren und Dienstleistungen von 20,5 Mrd. EUR nach Japan (12% mehr als im Jahr davor) und importiert rund 25 Mrd. EUR aus Japan (+7,5% ggü. 2021). Die Handelsaktivitäten sind auf einem höheren Niveau als vor der Pandemie. Knapp 12500 deutsche Unternehmen exportieren nach Japan, 450 von ihnen haben Niederlassungen in Japan, betreiben vor Ort 125 Fabriken und schaffen 265 000 Arbeitsplätze im Land.
- Auch in Japan herrscht Fachkräftemangel: In der überalterten japanischen Gesellschaft fehlen Fachkräfte allerorten; qualitative Zuwanderung ist nur begrenzt möglich, da schon ob der Sprachbarriere relativ wenige Einwanderer kommen. Ein großes Potenzial gibt es noch an weiblichen Arbeitskräften.
- Die Konfliktlösung in Japan folgt festen Ritualen und findet verdeckt statt: Die japanische Politik ist sehr auf Harmonie bedacht, bis auf wenige Jahre (2009-2012) war die LDP in der Verantwortung. Die Menschen sind sehr konsensorientiert, was oft mit dem Inseldasein begründet wird – „man ist sich nahe, sieht sich öfters, muss miteinander auskommen“. Dazu passt auch die eher ablehnende Haltung weiter Teile der Bevölkerung gegenüber offenen Protesten.Es wird auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens hingewirkt und erst dann gehandelt. Impulse für Veränderungen kommen insbesondere von lokaler Ebene.
- You need to be better at programming things, but once things move to delivery, their strength is the speed in this space – die Entscheidungsfindung in Japan ist meistens langwieriger als in Deutschland, aber dafür werden getroffene Entschlüsse sehr schnell in die Praxis umgesetzt
Die Begegnungen mit den Gesprächspartnern sowie die Reflektionen der Teilnehmenden zeigen auf, dass es sich in Summe um eine höchst gewinnbringende Reise handelte, die die Teilnehmenden mit dem Gefühl entließ: Da geht mehr! Japan sucht, gerade vor dem Hintergrund der geopolitischen Situation die Volksrepublik China betreffend, eine stärkere Verbindung zu Westeuropa und, als Exportnation mit denselben strategischen Fragen, insbesondere zu Deutschland. Die Entfernung, die Insellage und auch die Sprachbarriere sollen nicht Hindernisse sein für mehr Kooperationen auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene, wurde von vielen Seiten signalisiert.
Nicht zuletzt die Olympischen Spiele in Tokyo 2021, die ja ob der Corona-Pandemie ohne internationales Publikum hatten stattfinden müssen, haben gesellschaftlich und auch sichtbar nach außen zu großen Veränderungen geführt und Barrieren gesenkt. So sprechen etwa nun mehr Japaner Englisch als noch vor ein paar Jahren, v.a. auch viele Taxifahrer; auch die Verkehrsschilder sind zweisprachig. Selbst fahren kann man im Linksverkehr, allerdings nicht so ohne Weiteres. Der deutsche Internationale Führerschein wird nicht anerkannt, stattdessen muss eine detaillierte japanische Übersetzung des deutschen Führerscheins beim Autoverleih vorgelegt werden.
Japan hat mit Deutschland viel gemein, hat ähnliche Herausforderungen, etwa die demografische Entwicklung, die starke Industrie, die Exportlastigkeit, v.a. auch Richtung China, und den eklatanten Fachkräftemangel. Letzteren kompensiert das Land bisher allerdings kaum durch Zuwanderung aus dem Ausland; die Sprachbarriere ist selbst für viele Akademiker hoch. Gefragt sind Ingenieure, IT-Spezialisten, Techniker, aber auch – ganz dringend – Lastkraftfahrer. Ab 2024 tritt ein Gesetz in Kraft, welches Bus- und Lastwagenfahrern aus Sicherheitsgründen nurmehr eine sehr begrenzte Zahl an Überstunden zulässt.
Insgesamt sind weniger als 3 Mio Einwohner Japans Ausländer, das sind nicht einmal 2,5 Prozent der Bevölkerung. In Japan leben zurzeit rund 6.000 Deutsche. Gleichzeitig sind die heimischen Frauen im Wirtschaftsleben und auch in der Politik trotz guter Ausbildung deutlich unterrepräsentiert. So sind beispielsweise nur rund 10 Prozent der Parlamentarier im Unterhaus, der größten Kammer des Parlaments, weiblich. Die Gründung einer Familie mit Kindern schließt eine Karriere in den meisten Unternehmen immer noch aus.
Die Bevölkerung in Japan schrumpft, das macht sich auch schon an den Universitäten (weniger Studierende) bemerkbar. Das heißt u.a. auch, dass immer weniger Menschen (noch 124 Mio.) die hohen Staatsschulden tragen müssen. Diesem Phänomen trägt auch die Japanische Notenbank Rechnung. Während in Europa und den Vereinigten Staaten das Zinsniveau derzeit zwischen vier und fünf Prozent liegt, hält die Bank of Japan unbeirrt an ihrer Niedrigzinspolitik (Leitzinssatz bei – 0,1%) fest, um die Staatsschulden weiter (sehr) günstig finanzieren zu können. Die Inflation ist dennoch mit 3% derzeit niedrig.
Wie und wie lange der geld- und finanzpolitische Spagat für Japan noch tragbar ist, bleibt abzuwarten. Der Notenbankpräsident will das vor Jahresende bekanntgeben. Dann könnte der historisch günstige Wechselkurs Geschichte werden. Also: Auf nach Japan, die Gelegenheit ist selten günstig!
Zum Sur-Place Dialog Tokyo 2023
Der Sur-Place-Dialog Tokyo 2023 ist ein gemeinsames Projekt des Studierendenforums (SF) im Tönissteiner Kreis sowie des Tönissteiner Kreises (TK). Das Projekt wurde federführend von Dr. Julia Münch und Pia-Tomoko Meid vom TK und Thomas Siurkus und Carl Gödecken vom SF organisiert. Zum Organisationsteam gehörten weiterhin Eva Steinberger vom TK sowie Dünya Baradari, Svenja Bauer, Tobias Ilg, Marie Thomas, Fabian Ulmer und Jonathan Ziener.