Decolonize!
Von Marie Schneider
Was wissen wir über den deutschen Kolonialismus? Was sind seine Hinterlassenschaften und wie gehen wir heute mit ihnen um? Der deutsche Kolonialismus taucht in Schulbüchern, Lehrplänen und in der gesamtgesellschaftlichen Erinnerungskultur kaum auf. Eine Aufarbeitung der Kolonialgeschichte ist im 20. Jahrhundert weitestgehend ausgeblieben und das historische Wissen über Deutschlands Rolle im europäischen Kolonialismus weist bei vielen Menschen große Lücken auf. Damit einhergehend fehlt oft ein Bewusstsein für zwei zentrale Punkte: Zum einen bleibt unklar, auf welch vielfältige Weise sich der Kolonialismus auf die Denk- und Gesellschaftsstrukturen in den kolonisierten wie auch den ehemals kolonisierenden Gesellschaften wie Deutschland bis heute auswirkt.
Zum anderen werden die globalen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse zu selten mit dem Kolonialismus in Zusammenhang gebracht. Gerade Kolonialismus und Kapitalismus sind eng verwoben und die weltweite Produktions- und Arbeitsteilung hat einen kolonialen Ursprung. Die vermeintliche kulturelle und wirtschaftliche Dominanz der Industrieländer wirkt neokolonial fort und koloniale Ausbeutungen, Abhängigkeiten und Bilder werden zum Teil reproduziert.
Die Projektorganisation
Beim Frühjahrskolloquium 2018 fand sich eine Gruppe von neu aufgenommenen Vereinsmitgliedern zusammen, welche die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und seinen Hinterlassenschaften als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe versteht. So entstand die Idee, im Rahmen eines Projekts des Studierendenforums einen Beitrag zur Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit in diesem Bereich zu leisten.
Daraufhin konzipierte ein siebenköpfiges Projektteam ein Seminarwochenende zum Thema Postkolonialismus in Deutschland. Nachdem die Finanzierung des Projekts mit Haushaltsmitteln des Landes Berlin – der Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit – sichergestellt war, konkretisierte sich die Projektplanung. Das Projekt fand vom 23. bis 25. November 2018 in Berlin statt.
Das Seminar richtete sich an junge Menschen, die Interesse für das Thema haben und offen für neue Perspektiven sind. Insgesamt nahmen zehn Mitglieder des Studierendenforums und zwölf weitere Studierende verschiedener Fachrichtungen teil. Das Ziel des Wochenendes war es, eine Sensibilisierung für die Wirkmächtigkeit des Kolonialismus zu erreichen. Ein solches, postkoloniales Problembewusstsein hält das Projektteam für eine wichtige Kompetenz für international agierende Akademiker:innen und wirtschaftliche oder politisch-gesellschaftliche Entscheidungsträger:innen – kurz: für eine wichtige Kompetenz in Berufen und Positionen, die viele Mitglieder des Studentenforums anstreben.
Das Seminarwochenende
Thematisch war das Seminar dreigeteilt in die Blöcke Geschichte, Gesellschaft und Globalität. Historisches Verständnis als Grundlage für einen kritischen Bewusstmachungsprozess verstehend, begann das Wochenende mit einer Einführung in die deutsche Kolonialgeschichte. Neben einem ereignishistorischen Überblick wurden der koloniale Diskurs und seine Legitimierungsstrategien vorgestellt und die Rolle von Wissen und Wissenschaft im Kolonialismus analysiert. Außerdem wurde auf ein wechselseitiges Verhältnis von den Kolonien und dem Deutschen Kaiserreich hingewiesen. Kolonialismus hat sich stets auch in Europa abgespielt und die kolonisierenden Gesellschaften geprägt. Beispiele für das „Empire at Home“ sind der Kolonialwarenhandel, Kolonialliteratur oder Kolonialausstellungen. Daran anknüpfend begab sich die Seminargruppe am nächsten Morgen auf einen postkolonialen Stadtrundgang in Berlin Mitte. Berlin trägt, wie viele andere deutsche Städte, bis heute Spuren der kolonialen Vergangenheit. Während wenige Orte an die Opfer von Versklavung und Kolonialismus erinnern, ehren verschiedene Straßennamen und Denkmäler deutsche Kolonialverbrecher:innen. Der Stadtführer Mnyaka Sururu Mboro und sein Verein Berlin Postkolonial e.V. setzen sich deshalb für eine Dekolonisierung Berlins ein und fordern eine Umbenennung dieser Straßen sowie eine Kontextualisierung der Kolonialgeschichte an den jeweiligen Orten, beispielsweise in Form von Gedenk- und Informationstafeln. Außerdem fordern die postkolonialen Aktivist:innen unter anderem die Rückgabe menschlicher Gebeine, die während der Kolonialzeit nach Deutschland verschleppt wurden, sowie Reparationen an die vom Genozid 1904-1908 betroffenen und enteigneten Herero- und Nama-Gemeinschaften.
Kolonialrassismus heute
Am Samstagnachmittag setzte sich die Seminargruppe mit Rassismus als Hinterlassenschaft des europäischen Kolonialismus auseinander. Bis heute prägt Kolonialrassismus das Zusammenleben der Menschen weltweit. Vielen fällt es schwer, den Rassismus und den kolonialen Hintergrund der deutschen Gesellschaft anzuerkennen und wir erleben Abwehrreaktionen auf die Thematisierung der Problematik. Deshalb fand ein antirassistischer Sensibilisierungsworkshop unter der professionellen Leitung von Narku Laing, einem Diversity-Trainer und Berater für Antidiskriminierung, statt. Im Rahmen des interaktiven Workshops, in dem mit Methoden des formalen und emotionalen Lernens gearbeitet wurde, erfolgte eine Offenlegung rassistischer Gesellschaftsstrukturen der Gegenwart. Narku Laing unterschied dabei zwischen institutionellem und strukturellem Rassismus sowie Formen von verinnerlichtem Alltagsrassismus und differenzierte klar zwischen rassistischer Motivation und oft unbewussten Vorurteilen. Der Workshop zielte auf eine Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien und Denk- und Handelsweisen ab und lud dazu ein, die rassismuskritischen Perspektiven weiterzutragen – in unser Privatleben, unser Arbeitsumfeld und in unser Engagement, beispielsweise im Studierendenforum.
Kolonialität
Am dritten Tag diskutierte die Projektgruppe, inwieweit globale politische und wirtschaftliche Verbindungen heute von Kolonialität geprägt sind und auf welche Weise Machtstrukturen der Kolonialzeit aufgelöst werden können. Am Beispiel der Entwicklungszusammenarbeit wurden fortlaufende Effekte des Kolonialismus verdeutlicht. In einem Vortrag zeigte Dr. Franziska Müller von der Universität Kassel koloniale Wurzeln der Entwicklungszusammenarbeit auf und übte postkoloniale Kritik an verschiedenen Konzepten der Entwicklungspolitik seit 1945. In einer Gruppenarbeit setzen sich die Teilnehmenden anschließend selbst mit dem „Marshallplan mit Afrika“ auseinander, einer aktuellen Initiative des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Insbesondere wurde analysiert, mit welchen Bildern von Afrika der Plan arbeitet und ob seine Konzepte und Strategien postkoloniale Kritik aufgreifen und inwieweit sie dennoch neokolonialen Mustern folgen.
Das Programm wurde am Freitag und Samstag jeweils mit einer gemeinsamen Abendgestaltung abgerundet und die Teilnehmenden sind motiviert, sich auch über das Seminarwochenende hinaus zu vernetzen und den neuen Input und die postkolonialen Perspektiven gemeinsam zu reflektieren.
In diesem Projekt engagierten sich Annemarie Schaupp, Julian Liebaert, Markus Specht, Maximilian Häntzschel, Ouassima Laabich, Rohat Akcakaya und Marie Schneider (Projektleitung).