Sur-place-Dialog Türkei 2007

20160210 SurPlaceDialog Türkei

Sur-place-Dialog Türkei 2007

A country full of paradoxes

Von Lena Kampf

„Kemalism meant a cultural revolution“, sagt Bedri Baykam und zeigt selbstgefällig auf eines seiner Bilder, das Mustafa Kemal Atatürk als Feldherren im Balkankrieg in Napoleanischer Pose zeigt. Das frühere Wunderkind und heutiger Künstler und Autor ist ein beeindruckender erster Referent, der neben Frauenakten auch immer wieder den Begründer der Türkischen Republik und “most beloved dictator” in seinen Bildern darstellt. Als vehementer Verfechter der Kemalistischen Werte tritt Baykam mit seiner Kunst gegen die angebliche Zensur der „Islamisten“ ein, kämpfte aber auch als Mitglied der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi ist die türkische Mitgliedspartei der Sozialistischen Internationale) auch für den Türkischen Nationalismus. Ein Widerspruch, sich zudem als politisch links zu sehen? Nicht in der Türkei. „White is not white in Turkey“, erläutert er und gibt uns damit einen wichtigen Hinweis auf das, was uns in der darauffolgenden Woche erwartet. Diskriminiert werden wir vor allem von den Nationalisten. Die Islamisten lassen uns eigentlich in Ruhe“, sagt Öner, ein Vertreter der Lamdaistanbul LGBTT Solidarity Association, einer Organisation, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in der Türkei einsetzt. Anders als in Deutschand gab es zwar nie ein Gesetz in der Türkei, das Homosexualität verbot, aber „die extremen Nationalisten bestreiten ja, dass es überhaupt Minderheiten gibt“.
Ein anderes Koordinatensystem

Schon nach zwei Tagen in Istanbul ist vielen klar geworden, dass man seine „westeuropäische Brille“ wohl ablegen muss, um die politische und gesellschaftliche Lage in der Türkei zu begreifen. Weiß ist tatsächlich nicht weiß, denn das politische Koordinatensystem ist anders besetzt, als wir es kennen. Die einfache Aufteilung von links nach rechts ist hier viel komplexer. Bestimmt ist es auch die vielschichtige Geschichte dieses Vielvölkerstaats, der alles so facettenreich macht, was wir in dieser Woche zu sehen und zu hören bekommen. Aybars Görgülü vom progressiven Think Tank TESEV tröstet uns, indem er illustriert, dass wir nicht die einzigen Verwirrten sind: „The choices between religious oriented leadership versus secularism and the difference between a strong military and a strong state leave many people confused. Since there is no tradition of democratic participation individuals are more comfortable with a strong state.” Er warnt aber auch vor einer Einmischung der Europäer in die innerpolitischen Angelegenheiten: „What we need is a new concept of citizenship, but it needs to be one ’made in Turkey’“.
Polarisierung der Gesellschaft

Zumindest von ihrem Versammlungsrecht machen an dem Wochenende hunderttausende Menschen Gebrauch. Die Straßen Ankaras sind überflutet mit dem Rot der türkischen Nationalfahne; es ist eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der Türkischen Republik. Aus Furcht vor der Kandidatur Premierminister Erdogans für den Posten des Staatspräsidenten demonstrieren die Menschen für den Erhalt des laizistischen Staates. Professor Ustun Erguder, Direktor des Istanbul Policy Center der Sabanci Universität, erklärt: „The presidential office, although a symbolic one, has very important veto powers and powers of appointance. The current one Ahmet Necdet Sezer is very critical of the president. If both posts, however, are in the hands of one person or party, it is a controversial and important political dilemma”. Er erläutert, was wir schon beobachten konnten: dass es eine zunehmende Polarisierung zwischen den Verteidigern der Kemalistischen Revolution und den pro-islamischen Kräften gibt. Dies habe viele Ursachen, aber die Aufhebung der strengen Trennung von Staat und Religion – Studentinnen dürfen nun Kopftuch an staatlichen Unis tragen – mache den Kemalisten Angst, wobei die Einmischung des Militärs in die Politik den islamisch orientierten Kräften missfalle. Als fundamentalistisch erleben wir die „AK parti“ zumindest nicht. Bei einem Abendessen im historischen Stadtkern von Ankara haben wir die Gelegenheit mit einigen Mitgliedern der Jugendorganisation zu sprechen und lernen die meisten als islamisch informierte Pragmatiker kennen.
Menschenrechte und Minderheiten

Eine widersprüchliche Darstellung und Bewertung der Lage der Menschenrechte in der Türkei erleben wir durch das Gespräch mit einem Repräsentanten des Menschenrechtsausschusses des Parlaments. Dieser bestreitet jegliche Menschenrechtsverletzungen und beschönt die Folterstatistiken bei Polizei und Militär, von denen uns einen Tag vorher noch die Menschenrechtsorganisation THRF berichtete. Die offizielleren Besuche sind dennoch sehr interessant und erlauben es uns in einzigartiger Weise, auch hinter die Kulissen schauen zu können. Leider müssen wir trotz unseres vollen Programms einen wichtigen Teil von vornherein auslassen, denn wir bewegen uns im Laufe unseres Türkeiaufenthaltes nur in den Großstädten Istanbul und Ankara. „The rural urban divide is another important factor to understand Turkey“, sagt Professor Ustun Erguder. “Nevertheless, it is critically important what happens in the hinterland to Ankara”. Im Mikrokosmos Istanbul werden wir Zeuge dieser Entwicklungen, denn die “Basak Culture and Art Foundation ermöglicht es uns, einen Einblick in die Lebensrealität von Internally Displaced Persons zu werfen. Diese Opfer von Zwangsmigration im Südosten der Türkei treffen in den Ballungszentren sehr schlechte Lebensbedingungen an, haben keine Möglichkeit Bildung oder gar medizinische Behandlung zu bekommen. „Some angels have to take care of them“, sagt die Betreuerin und lächelt ihre Schülerinnen an. Das Mädchen Aynur hat lesen und schreiben bei ihr gelernt und gerade ein Stipendium für das Konservatorium gewonnen. „Basaksanat“ gibt diesen Jugendlichen nicht nur eine politische, sondern auch eine musikalische Stimme. Hier können sie ihre traditionelle kurdische Musik spielen. Wir kommen sogar in den Genuss einer beeindruckenden Kostprobe. „The diversity of the society is reflected in the media and vice versa“, sagt Mustafa Akyol, “but only since we have a coalition between the secular liberalists and conservative Muslims the media has received far more freedom”. Der religiöse Journalist, der vor allem für mehrere große Tageszeitungen schreibt, wird von seinem Kollegen Ertugrul Kürcü, der sich als Menschenrechts-Journalist sieht und für ein EU-Projekt für Medienfreiheit arbeitet, bekräftigt. „Until 1991 the state had a monopoly on broadcasting. Today, Kurdish newspapers and TV stations are allowed but there is still a lack of critical capacity and ethical force”. Beide kritisieren vor allem den Artikel 301 des Türkischen Strafgesetzbuchs, der es strafbar macht, das Türkentum zu beleidigen. Einige ihrer Kollegen sind diesem Artikel zum Opfer gefallen, unter anderem auch ein sehr guter Freund, der armenischtürkische Journalist Hrant Dink, der im Januar 2007 auf offener Straße ermordet wurde.
Unzureichende Berichterstattung in Westeuropa

Und wieder sind wir überrascht, wie offen unsere Referenten über das Thema Armenien mit uns reden. In den Westeuropäischen Medien wird es so dargestellt als wäre dies tabu. Vieles scheint im Argen mit der Berichterstattung über die Türkei. Für die EU-Beitrittsverhandlungen wird dieses Land als Bittsteller beschrieben, aber dies sehen die meisten unserer Gesprächspartner als verkürzt. „Although it is correct that our modern state structure has to be improved and adapted to new challenges, we are truly part of the European State system“, sagt Professor Huseyin Bagci von der Middle East Technical University. Ahmet Evin vom Istanbul Policy Center weist darauf hin, dass es eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen der EU und der Türkei gibt: „At the moment, there is a lack of confidence on both sides. The Turkish population is losing faith in the negotiation process and this is bad. The EU represents an agent of stability”. Auch Klemens Semtner, Diplomat an der Deutschen Botschaft in Ankara, sieht es als bedenklich an, dass der Verhandlungsprozess oft negativ erfasst wird: „Deutschland und die Türkei sind sehr enge Handelspartner. Selbst das noch nicht voll implementierte Ankara Protokoll wird an dem Prozess nichts ändern. Die Türkei macht in den meisten Bereichen wunderbare Fortschritte. Nur die Zypernfrage muss unbedingt gelöst werden“. Als wir Professor Bagci darauf ansprechen, antwortet er, dass die Türkei eben eine soft und eine hard power sei, was sich vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik zeigt. Gerade was die Sicherheit der Türkei angeht, ist es eine wichtige Zeit, denn der kurdische Norden Iraks brodelt. Um alle diese Einflüsse wirklich zu verstehen, müssen wir tatsächlich die „türkische Brille“ tragen. Aber welche der vielen verschiedenen, die dieses faszinierende Land ausmachen? Weiß ist nicht weiß in der Türkei, das macht es eigentlich unmöglich, sich in dieser Woche ein umfassendes Bild zu machen. Trotz allem wird Bagci wohl nie seine gute Laune verlieren, denn er lacht in unsere beeindruckten Gesichter: “This is a country full of paradoxes, but I love it!” – da können wir uns nur anschließen.

Die Organisatoren der Reise waren Simon Hillmann, Lena Kampf, Verena Kroth, Ronny Thomale und Philipp Wendel.