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Auch Realschüler zieht es ins Ausland

18. Februar 2008, Die WELT
Projekt Haupt- und Realschüler international

An der Realschule im schleswig-holsteinischen Niebüll motivieren Lehrer aktiv ihre Schüler, ein Jahr im Ausland zu verbringen. Momentan nutzen diese Chance nur fünf Prozent der Realschüler. Doch nicht nur die Schüler selbst zweifeln an ihren Fähigkeiten dazu. 
von Nina Mareen Spranz 

Oke Albrecht hatte seinen Realschulabschluss in der Tasche und wollte raus. Raus aus Norddeutschland, weg vom elterlichen Bauernhof, rein in die weite Welt. Amerika sollte es sein, am liebsten Kalifornien, per Schüleraustausch und für ein ganzes Jahr. Vorgemacht hatte es ihm seine Zwillingsschwester Thoma. Damals 16-jährig, war sie sofort nach dem Abschluss der Realschule Niebüll nach Kentucky aufgebrochen, ein Jahr geblieben, und begeistert zurückgekehrt. Viel Sport, viele neue Freunde und nur ganz wenig Hausaufgaben. „Schule dort war wirklich nicht schwer, eher so wie bei uns in der achten Klasse“, lacht Thoma. Oke war weniger mutig, wechselte zunächst auf das Fachgymnasium, nach der elften Klasse packte aber auch er seine Sachen. „Ein mulmiges Gefühl hatte ich trotzdem, vor allem weil ich dachte, es wird mir vielleicht zu lang“, erinnert er sich. Aber das Jahr habe ihm gut getan, „ich bin viel selbstbewusster geworden und hatte eine echt fantastische Zeit“, sagt der mittlerweile 19-jährige Zwölftklässler: Eine nette Gastfamilie in Arizona, Ausflüge nach Washington und Kalifornien, gekrönt von einem zehntätigem Urlaub auf Hawaii. Auch Oke hat Amerika nicht bereut.

Auf die Idee für den Austausch kam Schwester Thoma damals aber nur, weil ihre Realschule sie auf den USA-Aufenthalt aufmerksam machte. Die Schule fördert das Interesse am Auslandsjahr, zunächst mit Flyern und Infoveranstaltungen, dann auch persönlich in den Klassenzimmern. „Die Englischlehrer sprechen im Unterricht über die Austauschprogramme, vermitteln Wissen über das amerikanische Schulsystem“, erklärt der stellvertretende Schulleiter Hans-Ferdinand Sönnichsen und erstellt bei Bedarf für den Austausch nötige Gutachten.

Eine solche Förderung ist an deutschen Real- und Hauptschulen die Ausnahme. „Außerhalb des Gymnasiums wird ein Austausch bislang eher über private Mund-zu-Mund-Propaganda vermittelt“, erklärt Sönnichsen. „Wenn jemand aus dem weiteren Bekanntenkreis das Wagnis Jahresaustausch auf sich genommen hat, fällt die Entscheidung eher.“ Mit dem Ergebnis, dass sich bei den einschlägigen Organisationen fast ausschließlich Gymnasiasten bewerben. „Die Quote an Realschülern bei den einjährigen Austauschen liegt bei uns bei etwa fünf Prozent, die der Hauptschüler bei Null“, sagt Knut Möller, Geschäftsführer der Austauschorganisation Youth for Understanding (YFU) und Sprecher des Arbeitskreises gemeinnütziger Jugendaustauschorganisationen (AJA). 1200 Schüler zwischen 15 und 18 Jahren verschickt YFU jedes Jahr in die verschiedensten Länder. „Wir wären begeistert, wenn sich mehr – vielmehr überhaupt – Hauptschüler bei uns bewerben würden“, sagt Möller. YFU werbe zwar aktiv auch an den Hauptschulen, ein mit knapp 700.000 Euro gut gefüllter Stipendientopf stünde bereit und dennoch: „Die Rücklaufquote liegt bei Null“, beklagt der YFU-Mann. „Es kann nicht an der Finanzierung liegen.“ Ein Jahr USA, wie Oke und Thoma es hinter sich haben, kostet bei YFU 6400 Euro. Teilstipendien bis 4400 Euro stünden für die Teilnehmer zur Verfügung, „in absoluten Härtefällen gewähren wir sogar Stipendien, die fast den gesamten Programmpreis decken“, sagt Möller. Das Programm sei so flexibel angelegt, dass auch junge Schüler direkt nach dem Hauptschulabschluss teilnehmen könnten. Und auch das Auswahlverfahren siebe Schüler mit geringerem Bildungsniveau nicht aus. „In den Gesprächen kommt es darauf an, dass die zukünftigen Teilnehmer soziale Kompetenz zeigen“, erklärt er. Viel mehr als auf den Notendurchschnitt würde darauf geachtet, ob und wie sich ein Schüler in ein neues Umfeld integrieren könne und ob er stabil genug sei, ein Jahr durchzuhalten. „Die Jugendlichen sollen in einer Familie funktionieren und auch wachsen können“, fordert Möller.

Genau das traut Heinz Wagner, Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), den Hauptschülern nicht zu, erklärt damit ihr Fehlen bei den Austauschprogrammen. „Schon bei einwöchigen Fahrten haben die begleitenden Lehrer häufig Sorge, dass sich die Schüler nicht als ordentliche Repräsentanten ihres Landes zeigen“, sagt Wagner. Hinzu kämen meist noch kulturell-religiöse Probleme. „Wenn schon bei Klassenfahrten ein Drittel der Schüler nicht teilnehmen darf, weil es die Eltern verbieten, ist ein langfristiger Aufenthalt meist völlig ausgeschlossen“, klagt Wagner. Ein fehlender deutscher Pass mache vieles noch komplizierter, ebenso wie mangelnde Kompetenz in der Fremdsprache.

„Haupt- und Realschüler dürfen nicht weiter von internationaler Bildung und dem Austausch ausgeschlossen bleiben“, fordert Andreas Saerbeck, Mitinitiator des Projekts „Haupt- und Realschüler International“ des Studierendenforums im Tönissteiner Kreis. Die Gruppe arbeitet an einem speziell zugeschnittenen Motivations- und Auslandsprogramm. Grundlage dafür ist eine Umfrage unter Hauptschülern: Viele Befragte geben dort an, dass es vor allem die Angst vor dem Zurückbleiben im Wettbewerb um einen Ausbildungsplatz sei, die schwierige Rückkehr in den Freundeskreis und tatsächlich auch fehlende Vokabeln.

„Ich würde diesen Jugendlichen so gern sagen, dass ihre Bedenken grundlos sind“, sagt Birte Marquardsen. Sie spricht aus Erfahrung, hat selber in einem kleinen Dorf nahe der dänischen Grenze die Hauptschule besucht und später ein Austauschjahr in Brasilien verbracht. Mit nicht viel mehr Kenntnissen auf Portugiesisch als „Hallo“ und „Danke“. „Was in der Hauptschule oft fehlt, ist jemand, der einem das Gefühl gibt, dass man etwas schaffen kann. Der an einen glaubt“, beschreibt die 26-Jährige. Viele Kinder in der Hauptschule würden nicht ermutigt, sich Bildung anzueignen. Viel mehr stünde der „Kampf ums Überleben, eine solide Berufsausbildung, die das Einkommen sichert“ im Vordergrund. Sie fragten sich, was sie anfangen sollen, wenn der Lebensunterhalt nicht gesichert ist. „Man muss den Schülern begreiflich machen, dass sie durch ein Austauschjahr mehr erreichen können, als die Sicherung eines Ausbildungsplatzes. Es ist eine Chance, die eigenen Talente zu finden.“ Sie sagt es mit Nachdruck und kann es auch. Birte Marquardsen hat nicht nur ein Jahr in Brasilien verbracht, den Realschulabschluss und das Abitur nachgeholt. Heute studiert sie – Bildungsmanagement an der Technischen Universität in Berlin.

http://www.welt.de/politik/article1690870/Auch_Realschueler_zieht_es_ins_Ausland.html


Netz ohne Grenzen

Manager Magazin, 7. April 2003

Der „Tönissteiner Kreis“ fördert junge Talente, die eine Spitzenkarriere im Ausland anstreben. 
von Eva Buchhorn

Wer in Frankreich eine EU-Karriere oder eine Position im Topmanagement anstrebt, besucht eine Grande Ecole. Wer als Brite in den diplomatischen Dienst eintreten will, studiert in Oxford oder Cambridge. Doch wo bereiten sich deutsche Talente auf internationale Karrieren vor? Die eine, spezialisierte Ausbildungsstätte für Elite-Beamte oder auslandsorientierte Manager gibt es hier zu Lande nicht. Aber es gibt einen Verein, dessen Mitglieder jungen Talenten gerne dabei helfen, ihren Traum von der internationalen Laufbahn zu verwirklichen: den Tönissteiner Kreis. Die „Tönissteiner“, das sind mehr als 600 Spitzenbeamte, Rechtsanwälte, Manager, Wissenschaftler und andere Akademiker, die alle eins gemeinsam haben: Sie haben lange Zeit im Ausland gearbeitet oder tun es noch. Und sie bemühen sich intensiv darum, ihre Kenntnisse und Erfahrungen an Jüngere weiterzugeben.

Doch Achtung: Wer den kurzen Draht zur Macht sucht, ist in diesem Netzwerk falsch. Regelrechte „Promis“ aus Wirtschaft und Politik finden sich wenige in den Reihen des Kreises. Daimler-Chrysler-Vorstand Klaus Mangold oder Stahlunternehmer Jürgen Großmann gehören noch zu den bekanntesten Manager-Mitgliedern. Auch glanzvolle Parties oder elegante Abendessen, bei denen hoffnungsvolle Talente sich an geladene Botschafter oder Topmanager heranschleichen könnten, sind nicht die Sache dieses Zirkels. Dem Glamour mag man anderswo frönen – bei den Tönissteinern wird richtig gearbeitet. Was also hat der Kreis jungen Führungskräften zu bieten? Da gibt es zum Beispiel die so genannten Fachkolloqien: Ausgewählte Young Professionals diskutieren ein Wochenende lang mit hochkarätigen ausländischen Referenten über aktuelle politische oder wirtschaftliche Fragen. Da gibt es ferner das Mentorenprogramm: Ältere Tönissteiner, Diplomaten etwa oder Ministerialbeamte, engagieren sich als Ratgeber und stehen jüngeren Mitgliedern in allen beruflichen Lebenslagen zur Seite. Ein weiteres Projekt ist das 1999 gegründete Studierendenforum. Die Studenten – bisher sind es rund 85 – unternehmen Bildungsreisen ins Ausland oder organisieren eigene „Think Tanks“. Bei all diesen Aktivitäten werden die Jungen von arrivierten Tönissteinern tatkräftig unterstützt. Durch deren Kontakte erhalten sie Einblicke, von denen ihre Altersgenossen nur träumen können. Bei ihrer Bulgarien-Reise im vergangenen Jahr empfing der bulgarische Premierminister die studentische Runde. Und nach dem Afrika-„Think Tank“ mit der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) in Berlin führte ein Personalmanager der GTZ die Teilnehmer ausführlich in die Karriereperspektiven in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ein.

Wie man Tönissteiner wird 
Erste Bedingung ist ein Studium. Juristen und Wirtschaftswissenschaftler stellen die Mehrheit im Verein und im Studierendenforum, doch andere Berufsgruppen – Unternehmer, Naturwissenschaftler, Kulturschaffende und Journalisten – sind ebenfalls gern gesehen. Auch junge Politiker würde man gerne verstärkt für den Verein gewinnen, sagt Felicitas von Peter, eine der Sprecherinnen der Organisation. Aber ach, zu wenige erfüllen sämtliche Aufnahmekriterien. Denn mit der akademischen Ausbilung ist es nicht getan, und auch persönliche Beziehungen zu einem Mitglied zählen hier nicht viel. Aufgenommen wird nur, wer zum Zeitpunkt seiner Bewerbung unter 35 Jahre alt ist und bereits zwei Jahre in unterschiedlichen Sprachräumen im Ausland gelebt hat. Sehr gute englische Sprachkenntnisse sind selbstverständlich, und auch auf Französisch möchte der Kreis „jederzeit arbeitsfähig sein“, wie die Sprecherin betont. Gefordert sind außerdem überdurchschnittliche fachliche Leistungen sowie die erkennbare Bereitschaft, internationale Aufgaben zu übernehmen und sich gemeinnützig zu engagieren. Auch die aktive Mitarbeit im Kreis wird gefordert: Eine „reine Konsumentenhaltung“, sagt von Peter, „akzeptieren wir hier nicht.“ Weil all diese Bedingungen nur von wenigen deutschen Hochschulabsolventen erfüllt werden, kooperiert das Netz auf der Suche nach neuen Kandidaten mit den Begabtenförderungswerken und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. Kein Wunder also, dass aus der Vita vieler jüngerer Tönissteiner eine enorme akademische Beflissenheit herauszulesen ist. Ihre Lebensläufe strotzen nur so vor Stipendien, Titeln, Zusatzstudiengängen, Praktika und Auslandsaufenthalten, als hätten diese jungen Leute seit Schülertagen nichts anderes gekannt als sich höchst ambitioniert auf den Beruf vorzubereiten. Trotzdem ist der Kreis kein Zusammenschluß windschnittiger Aufsteiger. Ganz im Gegenteil: Viele Tönissteiner sind neugierige, vielseitige Leute, die früh begonnen haben, sich in der Welt umzusehen und sich für gesellschaftliche Fragen einzusetzen. Wie der Volkswirt, zum Beispiel der während seiner Studienzeit für die OSZE als Wahlüberwacher in Bosnien-Herzegowina unterwegs war. Oder jener MBA-Absolvent, der einige Jahre für die Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam gearbeitet hat und später zur Unternehmensberatung Arthur D. Little ging. Ein spannender Zirkel also, in dem jüngere Führungskräfte eine Menge wertvolle intellektuelle Anregungen erhalten. Zugegeben, ein bisschen Zeit und Energie muss man schon aufwenden – aber Engagement kann ja auch Spaß machen.

Im Profil: Der Tönissteiner Kreis 
Träger: Der „Tönissteiner Kreis“ wurde 1958 im Eifel-Örtchen Bad Tönisstein gegründet. Ziel war es, den Anteil junger Deutscher in internationalen Organisationen zu erhöhen. Finanziert wird der Verein von den Wirtschaftsverbänden, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und Stiftungen.

Mitglieder: In den ersten Jahrzehnten zog der Kreis vor allem Juristen und Wirtschaftswissenschaftler an, darunter viele Mitglieder des öffentlichen Dienstes. Heute arbeiten zwei Drittel der Tönissteiner im privaten Sektor, in Wirtschaftsunternehmen, den Medien oder als Freiberufler.

Projekte: Der Kreis engagiert sich an Universitäten, in der Bildungspolitik und mit eigenen Veranstaltungen. Für begabte Studenten und Hochschulabsolventen organisiert er Workshops mit Auslandsbezug, Reisen und international besetzte Kolloquien. Als Mentoren beraten die Mitglieder Studenten und junge Akademiker bei der Vorbereitung und Gestaltung einer internationalen Laufbahn.


Warum immer nur die anderen?

Deutsche Lehrer im Ausland, 1/2007 
Zeitschrift des Verbandes Deutscher Lehrer im Ausland 
Projekt Haupt- und Realschüler international

Das Projekt „Haupt- und Realschüler international“ des Studierendenforums im Tönissteiner Kreis 
von Andreas Saerbeck

Die Hauptbaustellen des deutschen Bildungssystems sind leider nicht immer die, die eine Renovierung dringend nötig hätten. Profilklassen und Elitestudiengänge prägen die Diskussion, viel wird über Ausbildung und Studium geredet, aber vernachlässigt werden bei dieser Förderung oft die, denen bereits die Wahl der Schulform oft Probleme bereitet: Real- und insbesondere Hauptschüler. Dennoch sind Förderungen natürlich möglich, insbesondere in Bereichen, in denen andere bereits Unterstützung erfahren. Einer dieser Bereiche ist der internationale Schüleraustausch. Während es für Gymnasiasten und Gesamtschüler alles andere als ungewöhnlich ist, während ihrer Schulzeit ins Ausland zu gehen, bleibt es für Haupt- und Realschüler bisher die Ausnahme. Dabei kann Austausch auch wichtige Erfahrungen und Impulse für Ausbildung und Beruf geben. An diesem Mangel möchte die Projektguppe „Haupt- und Realschüler international“ des Studierendenforums im Tönissteiner Kreis etwas ändern. 

Das Studierendenforum im Tönissteiner Kreis ist ein politisch sowie konfessionell unabhängiger, interdisziplinärer Think Tank deutscher Studierender mit internationaler Orientierung, der verschiedene Projekte ins Leben ruft und betreut. Er vereint Studierende aller Fachrichtungen und ist die Studentenorganisation des 650 Mitglieder zählenden Tönissteiner Kreises, der deutschen Nachwuchs international fördern möchte. Leider gibt es – wie die Projektgruppe in einer ersten Recherchephase herausgefunden hat – verhältnismäßig wenige Austauschprogramme, die sich gezielt an Real- und Hauptschüler richten: Das Angebot von Austauschorganisationen ist zwar für Schüler aller Schulformen offen, allerdings erfolgt in der Regel eine strenge Auswahl, bei der Haupt- und Realschüler im Vergleich weniger erfolgreich abschneiden. Zudem sind die Probleme praktischer Natur: Ein Auslandsaufenthalt kostet Geld, Stipendien gibt es wenige. Auch sind die Berührungsängste größer. Was Austauschprogramme der Schulen selbst angeht, sind auch diese bei Haupt- und Realschulen eher spärlich gesäht, was oft daran liegt, dass der Lehrplan von Haupt- und Realschulen praktischer ausgerichtet ist, als dies bei Gymnasien und Gesamtschulen der Fall ist. 

Dabei ist nicht einsehbar, warum ein entsprechend für Haupt- und Realschüler konzipiertes Austauschprogramm zur Ergänzung und Erweiterung des Unterrichts nicht möglich sein sollte. In einer zweiten Recherchephase hat die Projektgruppe Anfang Dezember daher begonnen, in Hauptschulen zu gehen, Schüler, Lehrer und Verantwortliche in Beruf und Ausbildung zu befragen, wie ihrer Meinung nach ein Austauschprogramm aussehen kaönnte – ob beispielsweise ein Praktikum im Ausland sinnvoller sein könnte als ein Familienbesuch – und wo genau praktische Probleme liegen. Danach wird es darum gehen, mit Unterstützern und Organisationen ein entsprechendes Paket zusammenzuschnüren. 

Noch ist das Projekt also in einer Anfangsphase. Der Mangel an Angeboten ermutigt aber, weiterzumachen. Für Unterstützung, Hinweise und konstruktive Kritik ist die Projektgruppe daher immer dankbar.


Nicht auf Harvard, sondern auf Europa antworten

Wirtschaft und Wissenschaft, 1/2005 
Projekt Tönissteiner Modell – Young Villa Hügel

Mit einem eigenen Modell wirbt das „Tönissteiner Studierendenforum“ für eine vielseitige und von großer Mobilität geprägte Spitzenausbildung künftiger europäischer Führungskräfte 
von Dirk Hamann

Die Debatte um Spitzenbildung wirft immer wieder die unglückselige Frage nach der „Antwort auf Harvard“ auf. Harvard hat aber nichts gefragt! Die Frage nach Spitzenbildung ist eine europäische: Wie kann hoch begabten Europäern von Studienbeginn an ein Rahmen geboten werden, in dem sie sich zu kompetenten, verantwortungsbereiten und visionären europäischen Bürgern entwickeln? Eine nationale Universitätsbildung bietet nur unzureichende Möglichkeiten, Europa zu erfahren, interkulturelle Kommunikation zu erlernen, eine Identität als citoyen européen und schließlich eine Vision von Europa zu entwickeln. „Europa“ als Studiengang ist ebenfalls nicht hilfreich: Die Studenten kommen nicht nach Europa, sondern Europa kommt in den Hörsaal und verkommt dadurch zu einem Abstraktum der Wissenschaft. Sinnvoller ist es, ein etabliertes Studienfach in einem europäischen Kontext zu studieren. Viele Studienpostgraduelle Programme propagieren einen derartigen Aufbruch nach Europa, doch im undergraduate Bereich ist davon wenig zu spüren. Ein gewaltiges Potenzial bleibt damit ungenutzt. Folgende Leitlinien müssen ein europäisches Studium kennzeichnen:

Interkulturelle Kompetenz 
Der Studierende sollte als Teil einer europäischen Gemeinschaft interkulturelle Kompetenz erwerben und vor allem den eigenen Standpunkt mithilfe fremder Perspektiven hinterfragen. Teil einer europäischen Gemeinschaft zu sein, bedeutet aber auch, sich inhaltlich mit den Fundamenten dieser Gemeinschaft auseinander zu setzen und mehrere Sprachen dieser Gemeinschaft zu beherrschen.

Mobilität 
Ein citoyen européen kennt vor allem die unterschiedlichen europäischen Mentalitäten, Kulturen, Lern-, Lehr- und Denkmethoden und berücksichtigt diese in seinem Handeln und Denken. Dieses Ziel erreicht nur, wer an verschiedenen Orten Europas über einen längeren Zeitraum hinweg lebt.

Einheit in Vielfalt 
Eine europäische Spitzenbildung muss einerseits einen einheitlichen Rahmen bieten, Qualitätsstandards setzen und eine reibungslose Organisation sichern. Ansonsten ist aber dem dezentralen Charakter Europas Rechnung zu tragen. Die Eigenständigkeit und Vielfalt der Fakultäten muss auch weiterhin eine große Rolle spielen.

Universalität 
Spitzenbildung muss einen Abschluss in einem anerkannten Studienfach bieten. Dabei müssen aber neben sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern auch Naturwissenschaften integriert und angeboten werden.

Nach dem Tönissteiner Modell sollen im Rahmen einer Dachorganisation („Tönissteiner Universität“) die Studierenden ab Studienbeginn zunächst auf einem, der Dachorganisation unmittelbar unterstehenden Campus für ein Jahr zusammenkommen, um einem Grundstudium nachzugehen. Auf dieses folgt dann das Hauptstudium, in dem die Studenten ein etabliertes Fach aus den Geistes-, Sozial- oder Naturwissenschaften studieren. Das Hauptstudium umfasst drei bzw. vier Jahre und schließt mit einem von der „Tönissteiner Universität“ zu vergebenden Abschluss ab. Nach jedem akademischen Jahr wechseln die Studierenden Studienort und Land, wobei sie sich idealiter beides nach ihren Bedürfnissen individuell aussuchen können. Das Modell fordert ein paneuropäisches Netzwerk von Universitäten, die bei der Ausarbeitung der Curricula der Studiengänge und der Organisation des mobilen Studiums mit der Dachorganisation zusammenarbeiten. 

Dem Grundsatz der Subsidiarität entsprechend soll Letztere nur die für den reibungslosen Ablauf erforderlichen Rahmenregelungen schaffen sowie eine permanente Qualitätssicherung garantieren, während die teilnehmenden Fakultäten im Übrigen autonom das Studium mit Inhalt füllen. Auf diese Weise kann man unterschiedliche Lehransätze und Profile aus der vielfältigen europäischen Bildungslandschaft in ein individuelles Studium integrieren. Angestrebt wird, im Rahmen eines Wettbewerbs der Universitäten bzw. Fakultäten die besten für das Modell zu akquirieren. Gegenüber herkömmlichen Projekten bietet das Tönissteiner Modell ein Höchstmaß an vielseitiger Ausbildung, die mit dem Grundstudium vorbereitet wird. Letzteres besteht aus vier Säulen, die den unterschiedlichen Anforderungen eines europäischen Studiums Rechnung tragen: Sprachen, Studium Fundamentale, Studium Speciale und Projektarbeit. Während das Studium Speciale eine erste fachspezifische Vorbereitung bietet und daher auf das vom Studierenden für das Hauptstudium gewählte Studienfach ausgerichtet ist, soll das Studium Fundamentale, der Schwerpunkt des Grundstudiums, die Studierenden über ihre kulturellen Wurzeln und über ihre Verantwortung in Gesellschaft und Staat reflektieren lassen und dabei auch naturwissenschaftliche und ökologische Aspekte berücksichtigen. 

Das Tönissteiner Modell ist vor diesem intergrund ein zukunftsweisendes Bildungskonzept, das die Integration Europas fördert und eine europäische Antwort auf die Frage nach Spitzenausbildung gibt.

Der Originalartikel als Download